24. August 2020

The Purpose Trap

Noch nie waren Kultur und Kommerz, Mainstream und Underground, soziale Bewegung und individueller Konsum so miteinander vernetzt wie 2020. 

Brands haben sich immer schon an der Ästhetik der Pop-Kultur und auch des Undergrounds bedient, doch was passiert, wenn Aktivismus und Popkultur eins werden? Ästhetik lässt sich borgen, wie aber verhält es sich mit Werten?

Auf der einen Seite lässt sich vermutlich sagen, dass die Zeit keine Haltung zu haben vorbei ist, auf der anderen Seite stellt sich die Frage, ob jemand darauf gewartet hat, dass Sachen wie Pepsis Kendall Jenner Spot existieren.

"Uff"

Spoiler: die Antwort ist komplexer als “Nein”. Denn dieser und nachfolgende Spots mit weit weniger Cringe-Faktor sind die Symptome eines größeren kulturellen Shifts:

“Just as the aesthetics of the counterculture were available online and at the mall, so, too, had the values of the counterculture become mainstream. The core counterculture values of environmentalism, women’s rights, racial justice, and international peace were now simply accepted values.”
schreibt Douglas Rushkoff auf Medium

Und dieser Shift hat definitiv Implikationen für Kommunikation. Dass Content-Marketing von kultureller Relevanz lebt, ist klar. Dass Aktivismus und Pop-Culture Hand in Hand gehen, bzw. Aktivismus oft nichts anderes ist als eine aktive Konsumwahl zu treffen, ebenfalls. Genau hier schnappt die Purpose Trap zu, denn Purpose wird zum B(r)andwagon.

GreenWokewashing

Wenn sich Purpose und Werte einer Brand mit den Werten der Audience decken, resultiert daraus ehrliche, glaubwürdige Kommunikation.

Was aber, wenn Werte und Purpose einer Brand bloß kommunikativ geborgt sind, Opportunismus der eigentlich dominante “Wert” ist? Dann verlieren sich Brands im Sog von Low-Cost/High-Noise Nebelgranaten -  bloß nichts tun, das echte Reform bedeutet, sondern reine Kosmetik mit ein paar Bauernopfern am Cultural Relevance Altar.

Bei Spieleentwickler Bethesda lieber Pride nur in den Märkten, wo es keine Umsätze kostet.


“Brands will tend to embrace the principles of social justice activism only as far as needed to ensure the survival of the business itself. In fact, let’s go further: those with power inside institutions love splashy progressive gestures because they help preserve their power within the institution. They are not being asked to give up anything themselves.”
- Helen Lewis, The Bluestocking

Wenn sich McDonald's als “woke” (woke in Anführungszeichen, weil das nichts mit OG Wokeness zu tun hat) Unternehmen positioniert, das Black Voices pushed - gute Sache, oder? Natürlich, allerdings mit dem Haken, dass die Fast Food Industrie ein weitaus komplexeres Verhältnis zu Black America hat. Billiges Fast Food und chronische Gesundheitsprobleme bilden eine unheilige Allianz in den Black Neighbourhoods Amerikas. Und Marketing ist ein Teil dieses Problems

Die Werbung von Fast Food Ketten richtet sich überproportional an Minderheiten in den USA.

Ganz abgesehen davon, dass McDonald's immer wieder erfolgreich verhindert, dass seine Mitarbeiter*innen Gewerkschaften bilden können oder wenigstens adäquate COVID-19 Schutzausrüstung bekommen
Was bleibt ist eine performative Social Kampagne mit schalem Nachgeschmack.

BP wurde per Rebrand zu Beyond Petrol, auch wenn Deepwater Horizon noch immer leckt und die Low-Wage Aufräum-Arbeiter*innen an den Spätfolgen des Cleanups erkranken.
Der Rebrand wurde von den Konsument*innen nicht goutiert.

Echte Werte + echtes Engagement = Truthful Purpose.

 Klar ist, dass das unreflektierte Mitziehen bei Kommunikations-Trends (beinahe schon ein Credo der Werbung in diesem Millenium) in Zeiten von Woke Capitalism definitiv ausgedient hat.

"When a very specific social cause is used by a marketer to make headlines, it can seem quite desperate." - John Matejczyk, co-founder and chief creative officer at agency M/H VCCP

Denn das schadet langfristig allen. Den Werten, die so zunehmend verwässert und missbraucht werden. Den Brands, die auf Werte setzen, ohne bereit zu sein wirklich für etwas zu stehen. Und letztendlich auch den Unternehmen, die es ernst meinen.

Die Kommodifizierung von Social Causes um Schlagzeilen zu generieren, wird das Vertrauen in Werbung noch weiter erodieren. Wie sogar Unilever CEO Alan Jope erkennt

Die von Unilever gekaufte Brand Ben & Jerry's verkaufte 2018 ein Anti-Trump Eis.

Was also tun? Nachdenken. Umdenken. Umlenken. Das Unternehmen ihre gesellschaftliche Rolle neu definieren müssen, ist nun definitiv auch auf dem C-Level angekommen. Doch um in der Flut an Purpose Messaging glaubwürdig kommunizieren zu können, ist es umso wichtiger, eine klare Mission zu haben.

Mission informed Brand: Patagonia

Das beste Beispiel dafür? Patagonia - dessen Kommunikationsstrategie nicht Kampagnen-Denke sondern Brand DNA und Mission Statement ist: “Build the best product, cause no unnecessary harm, use business to inspire and implement solutions to the environmental crisis.” Für die Kommunikation bedeutet das im Umkehrschluss:

For us, it’s more important to get the environmental story out than Patagonia the brand. Before all, we emphasize storytelling and spotlight the environmental causes we care about. - Corley Kenna, Director of Global Communications, Patagonia

Believe in something. But even if it means sacrificing everything?

Wer sich also als Brand zu einer sozialen Frage äußern will, muss auf einiges gefasst sein - vor allem aber auch wirklich dafür einzustehen oder mindestens in Selbstreflexion damit zu gehen. Wer das nicht tut, hält die eigene Audience für dumm.

Denn langfristig wird das aktionistische Generieren von Headlines nicht aufgehen, wie der Economist prophezeit. Polarisierung ist nicht immer gut fürs Geschäft - wie Pepsi mit ihrem Tone Deaf Protest Ad, Starbucks oder auch US-Retailer Target rausfinden mussten. 

Für Patagonia ist die Mission klar, auch bei Ben & Jerry's (und seit dem Verkauf im Jahr 2000 dadurch auch ein klein wenig bei Unilever) fragt man sich nicht, wen man mit klaren Ansagen vergrault. Nike hatte wenig Probleme damit, dass wütende “Patriot*innen” ihre Sneaker verbrennen, und bleibt dabei vage genug sich eigentlich nicht eindeutig zu positionieren. 

Unter dem #dumpnike verbrannten wütendene Fans ihre Sneaker

Langfristig aber gilt es realistische Visionen zu entwickeln, wohin die Reise gehen kann: Wie manifestieren sich die eigenen Werte IRL, und nicht bloß im Markendreieck? Und sind sie mit den eigenen Praktiken überhaupt vereinbar?

Konnte man sich in den frühen 00er und 10er Jahren “Authentizität” und “Relevanz” noch aus den (pop)kulturellen Subkulturen borgen, ist nun das Zeitalter angebrochen, diese Versprechen mit eben eigenen Werten glaubhaft zu machen. Scary shit, allerdings auch die Chance auf eine massive Upside für Marken (und die Quintessenz von Branding): Orientierung und Identifikation in einer verrückten Welt.

13. Juli 2020

Reading List 21 – My Holiday Plans (vs. 2020)

Das Jahr hat so gut begonnen. Top Prognosen, eine Fußball EM in 12 Ländern und Olympische Spiele in Japan - Anfang 2020 blickt der Tourismus, eine Erfolgsgeschichte der Globalisierung, sonnigen Zeiten entgegen. Die Zahlen stimmen, und es scheint als erkennen die Gäste eine neue Art zu Reisen als Antidote zum schnellen, digitalen Lifestyle und Massenkonsum: Community & Resonanz.

“Live like a local” ist, spätestens seit AirBnB “Don’t Go There.
Live There.” propagiert, die einzig wahre Art zu reisen.

Und doch, eingeholt wurde man vom absoluten Gegenteil des Fremdenverkehrs: radikalem Stillstand. CORONA. Willkommen in Ischgl, einer beängstigenden IRL Episode der Piefke Saga - Destinationsmarketing, das man sich wohl lieber gespart hätte.

Crisis Mode

Innerhalb von wenigen Tagen wurde dem Tourismus die ihm zugrunde liegende Voraussetzung - der freie Personenverkehr - entzogen: 100% der Länder hatten im Monat Mai Travel Restrictions.

©via Kayak

Disruption in einer Branche, die von "heiler Welt" lebt. Apropos, sogar Airbnb, der Disruptor der Branche, wird selbst massiv durchgeschüttelt, kündigt 25% seiner Mitarbeiter*innen – das sind nahezu 1.900 Mitarbeiter*innen – und greift an die 3 Milliarden an neuen Investitionen und Krediten ab, um den Kopf über Wasser zu halten.

Wir sind mit einem Schlag zurück bei Stunde Null: Wie soll und wie kann Tourismus in einer Post-Corona Welt aussehen. Der Grundtenor ist unmissverständlich: Things have to change. Alles ist on hold und rekalibriert sich. Eine ganze Branche begibt sich auf die Suche nach neuen Lösungen - strukturell, aber auch in der Kommunikation. Das digitale Urlaubserlebnis gewinnt immer mehr an Bedeutung, jedoch nicht als Ersatz, sondern als nahtlos integrierte Extension der Experience. 

Flexibilität meets Purpose

Das Business-Gebot der Stunde - “Pivoting” - macht auch vor Marketing nicht halt. Visit Finland reagiert umgehend, adaptiert seine Rent a Finn Quasi-Concierge Kampagne zu einem virtuellen Happiness-Ratgeber für Krisenzeiten - um auch während der Krise sinnstiftend zu kommunizieren.

Ob “Rent a Finn goes virtual” der Happiness Guide ist, um uns durch die Krise zu führen?

Auch Airbnb wäre nicht Airbnb wenn man nicht auch bei virtuellen Experiences ein gewichtiges Wörtchen mitreden würde. Airbnb konkurriert während der Corona Krise nicht mit den Marriotts oder Hiltons dieser Welt, sondern mit Netflix und YouTube.

Digitaler Vorgeschmack

Generation Insta hat den Insta-Moment zwar zur ultimativen Currency des perfekten Urlaubs erhoben, begibt sich aber in Zeiten von eingeschränkter Freiheit auf der Suche nach neuen Reizen und Erlebnissen vornehmlich in die digitale Welt: “Why spoil the experience with a watered-down version of the real thing?” - eine berechtigte Frage, aber der Durst nach Inspiration und Eskapismus nimmt während und nach Corona nicht ab. Im Gegenteil, er wird durch die Isolation daheim geradezu verstärkt - wenn nicht physisch, dann virtuell: Roadtrips auf Google Maps, und Lockdown-NYC-skatende Avatare sind nur ein Auszug des improvisierten Contents, der uns das virtuelle Reisen in den letzten Wochen ermöglicht hat.

(Social) Distancing als Default

Distanz wird auch im Tourismus eine größere Rolle spielen, und es wird die Aufgabe von Kommunikation und digitalen Anwendungen sein, diese Distanz zu ermöglichen – oder aber zu überwinden. In den Hotels hat das Buffet vorerst ausgedient und auch die Koffer trägt man lieber selbst. Persönliche Interaktionen werden auf ein Minimum beschränkt, und was vor wenigen Jahren noch als Hospitality Innovation gefeiert wurde ist heute Notwendigkeit. Eine Consumer Journey, die bei einer Social Ad beginnt und mit einer Roomservice Bestellung endet, digitally-driven und mit Daten unterfüttert? Ein Traum für jede*n Experience Designer.

Nature is healing

Doch was ist stärker - die Sehnsucht nach Reisen, oder die Angst vor der Bedrohung? In der Theorie Letzteres, in der Realität wohl nicht: die Menschen stürmen die Parks und Strände als wäre nichts gewesen.

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Now wait a minute

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Die Frage ist also viel weniger ob oder wann es wieder Tourismus geben wird, sondern wie, und für wen. Die Zukunft der Fernreise mag im Moment noch ungewiss sein, aber die Destinationen öffnen sich langsam für die Gäste unmittelbar vor der Haustür. So setzt man beispielsweise in Hallstadt auf “Qualität statt Masse” und "die meisten Gastronomen sind bereits dabei, die Speisekarten für den österreichischen Gast umzugestalten”.

Was bleibt sind die abgedroschenen Phrasen und tatsächlichen Möglichkeiten der Krise als Chance: eine Rückkehr zur Romantik des Reisens, aber eben auch die Notwendigkeit zur langfristigen Veränderung – und die ist kaum wo so greifbar wie in der Hochburg der touristischen Monokultur: Venedig. 

Die Strahlkraft von starken Marken und Destinationen wird weiterhin ein Schlüssel zum Erfolg sein. Doch über Orientierung und Positionierung hinaus muss die Marke für eine neue Generation an Gästen einer sinnstiftenden Idee, dem Purpose, folgen.

© Lois Hechenblaikner via Der Standard

Die Tourismuswerbung ist daher im Begriff, ihren Ansatz zu Kommunikations- und Produktionszyklen zu überdenken. Sonnige Perfektion (mit entsprechenden Produktionsvorlaufzeiten) müssen sich in Zukunft mit einer gewissen Realness und Flexibilität die Waage halten, die Unmittelbarkeit der neuen Medien macht auch vorm perfekten Image der Urlaubsdestinationen nicht halt. Authentizität wird nicht nur großgeschrieben, sondern auch jeden Moment überprüft und eingefordert. 

Was auf den ersten Moment wie die nächste unvereinbare Hürde anmutet, birgt in Wirklichkeit eine unerwartete Chance für die Touristiker*innen, die Teil der Veränderung sein wollen. Eine Post-Corona-Welt, die die Marketing-gestützte Urlaubsutopie des “live like a local” eine echte Realität werden lässt - inklusive nachhaltigem Mehrwert für Gäste, Gastgeber*innen, und die tatsächlichen, viel zitierten Locals.